Wölfe im Schafspelz
Fall 6Im Spiegel der Corona-Krise zwischen social distancing und krimineller Energie
Auf der Suche nach einer neuen Regenjacke begibt sich Sophie Albrecht (S) in den John Wolfshide Store am Alten Markt in Kiel. S plant eine Reise in den „Ruhrpott“, um bei der Initiative „Ende Gelände“ für den sofortigen Kohleausstieg zu demonstrieren. Da es im Frühjahr allerdings recht regnerisch ist, braucht sie dringend wetterfeste Kleidung, damit ihre Demonstrationspläne nicht im wahrsten Sinne des Wortes „ins Wasser fallen“. Im John Wolfshide Store angekommen, probiert S zahlreiche Jackenmodelle an. Dabei bemerkt sie im Augenwinkel Kai Osterfeld (K), der sich alle Waren ganz genau anzuschauen scheint und irgendwie unruhig wirkt. S beobachtet, wie K mit einer Fleecejacke Modell „HYDRO JACKET M“ für 99,95 €, zwei Funktionsshirts, die jeweils von 39,95 € auf 19,95 € reduziert sind, und einer „wattierten“ Steppjacke für 129,95 € in der Umkleidekabine verschwindet. Auf dem Weg zur Kabine ruft K dem Verkäufer Arthur Sellmann (A) schelmisch zu: „Na, mal schauen, ob es passt. Ich probier’s mal an.“ A lächelt und hofft auf ein gutes Geschäft.
In der Umkleidekabine probiert K die beiden Jacken an, die wie angegossen sitzen. Gleiches gilt für die Funktionsshirts. Wie K von Anfang an vermutete, sind die Shirts reduziert, nicht aber das Fleece. Daher reißt er das elektronische Sicherheitsetikett der Fleecejacke einfach heraus und lässt es in der Kabine liegen. Die durch das Herausreißen beschädigte Fleecejacke zieht K – wie geplant – unter seine eigene Jacke an. Den Steppmantel hängt er zurück, geht mit den zwei Funktionsshirts zur Kasse und legt diese – abermals mit einem schelmischen Lächeln – auf den Tresen vor A. Nachdem er die Shirts bezahlt hat, verlässt K den Store und freut sich vor allem über die „billige“ Fleecejacke. S, die das ganze Geschehen beobachtet hat, ist wie vom Donner gerührt. Sicher, dass K die Fleecejacke nicht zurück „gehängt“ hat, geht S mit ihrer neuen Regenjacke zum Preis für 149,95 € zur Kasse und schildert dem A ihre Beobachtungen. Dieser alarmiert sofort die Polizei.
Als S zurück Zuhause ist, wird sie von ihrer Mutter Friederike Amalie Albrecht bereits im Hausflur begrüßt. Es herrscht größte Aufregung im Hause Albrecht, da sich in den letzten 24h die Nachrichten zur Verbreitung des Coronavirus (COVID-19) überschlagen. Friederike schildert S, dass alle Bürger aufgerufen seien, unnötige Reisen zu vermeiden und dass auch der Bahnverkehr in den nächsten Tagen beschränkt werde. S ist zum zweiten Mal an diesem Tag völlig fassungslos. Schnell geht sie in ihr Zimmer, um sich mit ihrer Community über das weitere Vorgehen und eine Verschiebung der Proteste zu beraten.
Auch A hat von den Maßnahmen aufgrund der „Corona-Krise“ gehört und fürchtet, dass er demnächst zur Kurzarbeit verpflichtet wird. Der Job im John Wolfshide Store reicht bereits jetzt „vorne und hinten“ nicht, um seinen ausschweifenden Lebensstil zu finanzieren. Zur Verbesserung seiner finanziellen Ressourcen begibt sich A nachts zum Supermarkt EWER und gelangt dort ganz leicht durch ein großes Loch im Zaun auf das Supermarktgelände. Dort bricht er unter einiger Kraftanstrengung das Schloss eines Metallcontainers auf, der dazu dient, die bereits abgegebenen und in Säcke gebündelten Pfandflaschen aufzubewahren.
Dabei geht A irrig davon aus, dass sich in den Säcken Plastikpfandflaschen befinden, die keine besonderen Hinweise auf einen konkreten Hersteller aufweisen. A beabsichtigt, die Pfandflaschen im gleichen Supermarkt abzugeben und sich so das Pfandgeld auszahlen zu lassen. A entwendet mehrere Säcke mit Pfandflaschen in einem Gesamtwert von über 50 €. In Wirklichkeit handelt es sich aber um Hartplastikflaschen, die aufgrund ihrer besonderen Prägung (u.a. Logo und Name) „Coca-Cola“ als Hersteller ausweisen.
Die Situation in Bezug auf das Coronavirus spitzt sich in den nächsten Tagen noch weiter zu. Kindergärten, Schulen, Restaurants, Fitnessstudios, Bars, Körperpflegeeinrichtungen und vieles mehr müssen zwangsschließen und das öffentliche Leben in Kiel und vielerorts sonst in Deutschland kommt fast vollständig zum Erliegen. Auch für S und ihren Bruder Friedrich hat sich der Alltag völlig verändert. Die Universität Kiel, an der S studiert, bleibt bis auf Weiteres geschlossen und F muss aufgrund der Schulschließung bis mindestens zu den Osterferien Zuhause bleiben. Obwohl durch die Bundesregierung ein striktes Kontaktverbot zwischen Personen ausgesprochen wurde, ist das Spazierengehen zu zweit bzw. mit Personen aus dem eigenen Hausstand weiterhin gestattet. Aus diesem Grund „drehen“ S und Friedrich jeden Nachmittag eine kleine Runde im sonnigen Kiel. Auf einem dieser Spaziergänge beobachten S und Friedrich folgendes Szenario:
Der frustrierte Restaurantbesitzer Conrad Möller (C) grübelt während eines Spazierganges um den Blücherplatz über seine finanzielle Lage. Dabei entschließt er sich spontan, der 80-jährigen Rentnerin Margarete Meier (M) die Handtasche zu entreißen, um das darin vermutete Geld an sich zu bringen. Er erkennt dabei die Gefahr, dass M auch schwer verletzt werden könnte, nimmt dies aber billigend in Kauf. Er nähert sich der M von hinten und greift nach der Tasche, die M in der linken Hand hält. Als diese die Tasche wider Erwarten nicht loslässt, reißt C daran mit solcher Kraft, dass der Tragriemen abreißt und er mit der Tasche fliehen kann. Dabei bemerkt C aufgrund seiner sofortigen Flucht nicht, dass M durch das Entreißen der Handtasche zu Boden stürzt und sich eine Platzwunde am Kopf zuzieht. S und F sind geschockt und stürmen zu M, um dieser Erste Hilfe zu leisten. S alarmiert die Polizei und ruft einen Krankenwagen, während F der M hochhilft und diese auf einen Kantstein setzt. Die Platzwunde wird ambulant genäht und verheilt ohne bleibende Schäden.
Strafbarkeit von A, K und C nach dem StGB? Die §§ 123, 239a, 239b, 289 StGB sowie Körperverletzungsdelikte sind nicht zu prüfen. Auch sind keine Unterlassungsdelikte zu prüfen.
Falls für Ihre Lösung wichtig: Gehen Sie davon aus, dass der Store von einer Marktleiterin als Franchise geführt wird und diese die Waren als eingetragene Kauffrau von John Wolfshide ankauft.
Vorüberlegungen
Der Sachverhalt muss in 3 Handlungsabschnitte gegliedert werden:
- 1. Handlungsabschnitt: Das Geschehen im John Wolfshide Store
- 2. Handlungsabschnitt: Das Geschehen auf dem Supermarktgelände
- 3. Handlungsabschnitt: Das Geschehen auf dem Blücherplatz
Kommen mehrere Handlungen als Anknüpfung für die Strafbarkeit innerhalb eines Handlungsabschnitts in Betracht, so sollte durchaus chronologisch geprüft werden. Im vorliegenden Fall ist diese Vorgehensweise jedenfalls am übersichtlichsten. Folgende Handlungen kommen für ein strafrechtlich relevantes Verhalten in Betracht:
- Täuschung des Verkäufers: § 263
- Anprobieren der Jacken: § 242
- Zahlen an der Kasse: § 263
1. Handlungsabschnitt: Das Geschehen im John Wolfshide Store
A. Betrug gem. § 263 I
Siehe Bild rechts
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a)
- Ausdrückliche Täuschung (-)
- Konkludente Täuschung (+)
Wer erklärt, er wolle Kleidungsstücke anprobieren, erklärt nach dem objektiven Empfängerhorizont damit zugleich, er wolle diese anziehen und sodann auch wieder ausziehen.
b)
Sachgedankliches Mitbewusstsein des A ist ausreichend
c)
Eine Vermögensverfügung ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen, das sich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt.
Es grenzt den Betrug vom Diebstahl ab. Zur Abgrenzung des Sachbetrugs vom Diebstahl ist es erforderlich, dass das Verfügungsverhalten beim Sachbetrug eine unmittelbare Vermögensminderung bewirkt und der Verfügende mit Verfügungsbewusstsein sowie freiwillig handelte.
Verfügungsgegenstand: Gewahrsam (nicht Eigentum) an der Jacke, daher: Vermögensminderung (-)
- die Jacke befand sich noch im Ladengeschäft als V diese anprobierte und damit im generellen Herrschaftsbereich, also noch innerhalb der Gewahrsamssphäre der Geschäftsleiterin; im Übrigen begründet die Anprobe nur eine flüchtige Beziehung, so dass nur eine Gewahrsamslockerung und damit noch keine Vermögensminderung vorliegt
- außerdem fehlt es am Verfügungsbewusstsein
2. Zwischenergebnis: Tatbestand mangels
II. Ergebnis: § 263
B. Diebstahl gem. § 242 I
Siehe Bild rechts
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Fremde bewegliche
b)
Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Begründung neuen Gewahrsams.
Gewahrsam ist die tatsächlich-soziale, von einem Herrschaftswillen getragene, Herrschaft einer natürlichen Person über eine Sache. Entstehung, Umfang und Reichweite des Gewahrsams richten sich maßgeblich nach der Verkehrsauffassung, d.h. nach der sozialen Zuordnung von Sachherrschaftsbeziehungen.
- Ursprünglicher Gewahrsamsinhaber: Marktleiterin des Jack Wolfskin Stores – die Fleecejacke befand sich in ihrer Herrschaftssphäre
- Neuer Gewahrsam: V überführte die Fleecejacke in eine Gewahrsamsenklave, als er die eigene Jacke über die Fleecejacke zog.
- Durch Bruch: Gegen den Willen der Marktleiterin
2. Subjektiver
a)
b)
Zueignungsabsicht setzt dolus eventualis bzgl. der dauerhaften Enteignung und Absicht bzgl. einer zumindest vorübergehenden Aneignung voraus.
II.
III.
IV. Besonders schwerer Fall des Diebstahls gem. § 243 I 2 Nr.
Das elektronische Sicherheitsetikett verhindert nicht die Gewahrsamserlangung, sondern erleichtert lediglich die Wiedererlangung der Sache
V. Ergebnis: § 242
C. Betrug gem. § 263 I
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Täuschung und
Das Vorlegen eines Kleidungsstücks an der Kasse beinhaltet auch die Erklärung, dass dieses Kleidungsstück erworben und aus dem Geschäft mitgenommen wird
b)
aa)
In Bezug auf den Gewahrsamsverlust und der mit dem Unterziehen der Fleecejacke begründeten Vermögensminderung fehlt es am Verfügungsbewusstsein, daher: Vermögensverfügung (-)
bb)
A hat es unterlassen den Herausgabeanspruch nach § 985 BGB geltend zu machen und hat damit das Vermögen des Stores gemindert. Ein Verfügungsbewusstsein wird beim Forderungsbetrug – im Gegensatz zum Sachbetrug – gerade nicht verlangt, daher: Vermögensverfügung (+)
c)
Ein Vermögensschaden liegt vor, wenn die aufgrund der Verfügung eingetretene Minderung des Vermögens nicht durch einen unmittelbar mit ihr verbundenen Vermögenszuwachs vollständig ausgeglichen wird. Ob ein Vermögensschaden besteht, wird in einem Vergleich der Vermögenslagen des Opfers vor und nach der Vermögensverfügung festgestellt. Dies geschieht im Wege der Saldierung.
Ein Schaden kann nur dann angenommen werden, wenn der Anspruch nach § 985 BGB durch die Täuschung bzw. Nichtgeltendmachung an Wert verloren hat. Dies ist nur dann möglich, wenn man den Herausgabeanspruch vor der Täuschung zum Nennwert in die Saldierung einstellt und ihn danach für wertlos hält.
Kenntnisstand des A und faktische Durchsetzbarkeit haben sich aber nicht geändert.
2. Zwischenergebnis:
II. Ergebnis: § 263
D. Sachbeschädigung gem. § 303
Durch Beschädigung des Sicherungsetiketts
E. Konkurrenzen: §§ 242 I, 303 I, 52 I aus Klarstellungsgründen
2. Handlungsabschnitt: Das Geschehen auf dem Supermarktgelände
Diebstahl gem. § 242 I
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Fremde bewegliche
Pfandflaschen standen jedenfalls nicht im Alleineigentum des A, so dass sie für ihn fremd sind
b)
Gewahrsamsverschiebung ohne den Willen des Geschäftsinhabers des Supermarktes spätestens in dem Moment, in dem A das Supermarktgelände verlässt
2. Subjektiver Tatbestand
a)
b)
aa) Vorsatz bzgl. der dauernden Enteignung
(1) Eigentum an den Pfandflaschen
- Individualisiertes Leergut: Eigentum an der Flasche verbleibt beim Hersteller
- Standardisiertes Leergut: Eigentum an der Flasche geht auf allen Vertriebsstufen über
Coca Cola ist eine individuelle Flasche, Eigentum verbleibt beim Hersteller
Coca Cola ist eine individuelle Flasche, Eigentum verbleibt beim Hersteller
A stellte sich vor, standardisierte Flaschen zu entwenden, die keinen bestimmten Hersteller ausweisen und somit im Eigentum des Supermarktes stehen.
Da die Zueignung kein Merkmal des objektiven Tatbestands des § 242 ist, sondern es lediglich auf die Zueignungsabsicht ankommt, ist allein die Vorstellung des Täters über die Eigentumsverhältnisse an den entwendeten Pfandflaschen und die Folgen ihrer Rückführung in das Pfandsystem maßgeblich.
(2) Gegenstand der Enteignung
Siehe Bild rechts
- Absicht, Leergut, das nach Vorstellung beim Supermarkt, also nach seiner Vorstellung, dem Eigentümer der Flaschen, abzugeben, daher: Rückführungswille (+)
- Kein Vorsatz, Wertminderung zu bewirken oder Funktionswert zu entziehen
- Aber: Vorsatz, dass Rückgabe unter Leugnung des Eigentumsrechts erfolgt, daher: Enteignungsvorsatz (+)
c)
Indem A das Pfandgeld kassieren wollte, bezweckte er eine wirtschaftlich sinnvolle Nutzung der Flaschen und handelte daher mit Aneignungsabsicht.
d) Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung und
II. Rechtswidrigkeit und
III. Besonders schwerer Fall des Diebstahls gem. § 243 I 2 Nr. 1,
1. Einsteigen in einen umschlossenen Raum, § 243 I 2 Nr.
- A hat das Loch im Zaun lediglich vorgefunden und ausgenutzt, daher: Einbrechen (-)
- A gelang ganz leicht durch das Loch im Zaun auf das Supermarktgelände, sodass kein Geschicklichkeits- oder Krafteinsatz erforderlich war, daher: Einsteigen (-)
2. Überwindung eines verschlossenen Behältnisses, § 243 I 2 Nr.
Container ist ein Raumgebilde, das allein der Aufnahme von Sachen dient und nicht zum Betreten von Menschen bestimmt ist
IV. Ergebnis: 242 I, 243 I 2 Nr.
3. Handlungsabschnitt: Das Entreißen der Handtasche
A. Schwerer Raub gem. §§ 249 I, 250 I Nr. 1c
Siehe Bild rechts
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Wegnahme einer fremden beweglichen
Handtasche ist eine für C fremde bewegliche Sache; Gewahrsamswechsel erfolgte gegen den Willen der M
b) Einsatz eines qualifizierten
Kraftvolles Zerren ist Gewaltanwendung
c)
aa) Gefahr einer schweren
Platzwunde am Kopf noch keine schwere Gesundheitsschädigung; aber mögliche Schädelfraktur oder Hirnblutungen
bb) Konkrete
Eine konkrete Gefahr liegt grundsätzlich dann vor, wenn der Täter eine Situation geschaffen hat, in der es nur noch vom Zufall abhängt, ob sich die geschaffene Gefahr in einem Schaden realisieren wird.
Bei einer 80-jährigen Dame ist ein Sturz erfahrungsgemäß mit größeren Gefahren für die Gesundheit verbunden als bei jüngeren Menschen, daher: konkrete Gefahr (+)
2. Subjektiver Tatbestand
a) Vorsatz bzgl.
Für den Gefährdungsvorsatz genügt das Erkennen einer konkreten Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung; C hat erkannt, dass die M durch den Raub schwer verletzt werden könnte und nahm dies auch billigend in Kauf, daher: Vorsatz (+)